IN ERWARTUNG – ODER DIE POETISIERUNG DES ALLTAGS

Auszug aus einem Vortrag von Dr. Elke Bippus, Zürich, 2005
Elke Bippus ist Professorin für Kunsttheorie und Kunstgeschichte an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK),

1967 schreibt Guy Debord : „Das ganze Leben der Gesellschaften, in welchen die modernen Produktionsbedingungen herrschen, erscheint als eine ungeheure Sammlung von Spektakeln. Alles, was unmittelbar erlebt wurde, ist in eine Vorstellung entwichen.“ Die Eventkultur hat die Schraube des Spektakels weiter gedreht und macht sich in perverser Verdrehung den Wunsch nach unmittelbarer, authentischer und substantieller Erfahrung zunutze. Die Realität gleicht sich ihrer Repräsentation an.

Die in Hamburg lebende 1973 geborene Künstlerin Kathrin Horsch verschiebt das Koordinatensystem von der Repräsentation zur Realität hin. Sie bezeichnet ihre künstlerische Arbeit als „eine Art Feldforschung“, bei der es ihr um „das Wahrnehmen und Festhalten alltäglicher Situationen [geht, um], die Konfrontation mit Menschen“. Ihre Dokumentationen monotoner, gleichsam ritualisierter Abläufe erkunden das Warten und Erwarten. Kathrin Horsch provoziert Situationen, die in ihrer repetitiven Struktur die Erwartung auf etwas Besonderes schüren, die, wie die Künstlerin schreibt: die „Erwartung auf ein Ereignis“ zuallererst hervorrufen und steigern. Die Hoffnung auf einen besonderen Moment entsteht dabei bei den Protagonisten, mit denen Kathrin Horsch für ihre Feldforschungen in Kontakt tritt, bei der Künstlerin und bei den Rezipienten der ästhetisch geformten Ergebnisse gleichermaßen.
In ihrer Arbeit OHNE TITEL-HOCKER von 2005 sehen die Besucher der Ausstellung eine Bank auf der sie Platz nehmen können und auf der DIN A4 Blätter in Folien ausliegen. Auf den Blättern sind SMS Kommunikationen zwischen Kathrin Horsch und verschiedenen Personen, hauptsächlich Männern, wiedergeben. Die Bank ist einer Videoprojektion gegenüber aufgestellt, die einen einfachen Hocker zeigt. Die zeitliche Struktur des Videos konterkariert das visuelle Phänomen, das einem Standbild gleich bleibt. Auch auf der akustischen Ebene spielt die Künstlerin mit einem Moment der Enttäuschung konventionalisierter Erwartungen. Zu hören sind zunächst unspektakuläre Nebengeräusche, wie etwa der fließende Verkehr aus der Ferne. Ähnlich wie in Cages 4.33 scheint man auf die im Raum sich ereignenden Geräusche verwiesen. Dann gibt es aber doch eine kleine akustische Attraktion. Eine Frauenstimme sagt: „Ich glaube, so ist es ganz gut“, dann Schritte, eine Tür. Nach einigen Minuten hört man erneut eine Tür, Schritte und wieder eine Frauenstimme, sie sagt „so, das war’s“. Dieser Ablauf wiederholt sich mit minimalen bedeutungslosen Veränderungen.
Kathrin Horsch bringt die Betrachter in eine Situation des Wartens und konfrontiert sie mit ihren Erwartungen. In vergleichbarer Weise agierte sie bei der Produktion dieser künstlerischen Arbeit: In verschiedenen regionalen Zeitungen, der Hamburger Morgenpost und dem wöchentlich erscheinenden Anzeigenmagazin Avis, annoncierte sie folgende Zeilen: „suche für Kunstprojekt Männer und Frauen unterschiedlichen Alters für Videoaufnahmen. Gerne sms. Rufe zurück“. Die Anzeigen erschienen unter den Rubriken, „Spaß und Sport“, „Mitteilungen“, „Unternehmungen“ und „Brieffreundschaften“. Die auf der Bank ausliegende SMS-Kommunikation gibt Zeugnis von den Erwartungshaltungen der zumeist männlichen Interessenten mittleren Alters.

Neben der Hoffnung jemanden kennenzulernen, mit anderen Arbeits- und Lebenszusammenhängen konfrontiert zu werden, sich dem Kitzel des Unberechenbaren auszusetzen, sind es sexuelle Fantasien, die sich in den kurzen Texten mitteilen.
Kathrin Horsch hat mit den erschienenen Teilnehmern in einem Aufnahmestudio, in dem sie eine bühnenartige Situation aufgebaut hat, mit weißem Boden, weißer Wand und schlichtem Hocker, die angekündigten Videoaufzeichnungen gemacht. Die Personen saßen mehrere Minuten auf einem Stuhl, allein in dem Aufnahmestudio vor einer Kamera und Scheinwerfern. Für die Rezipienten stellen sich die Feldforschungen allein über die SMS-Aufzeichnungen, den Ton und der Videoprojektion des leeren Hockers dar, auf dem die Personen in stiller Erwartung gesessen haben mögen.
Horsch präsentiert den Betrachter/-innen fragmentarische Aufzeichnungen. Sie spinnt sie in die von ihr inszenierten Warteschleifen und Eingriffe in den Alltag ein. Der Alltag wird nicht als allgemeingültiges Phänomen aufgerufen, sondern den Regeln der jeweiligen Systeme entsprechend reinszeniert. Die Entschlüsselung der Bedeutungsträger wird durch die Zurückhaltung von Informationen als unwichtig gekennzeichnet und unmöglich gemacht. Die Künstlerin verspricht weder außergewöhnliche Ereignisse noch relevante Sinnproduktionen.

In der 2001 entstandenen Arbeit MÖHRENSAFT ging Kathrin Horsch 72 Tage lang zu ein und demselben Saftstand, und bestellte sich einen Möhrensaft. Die einem gängigen und gleichsam ritualisierten Muster folgenden Gesprächsverläufe sind in einem Buch und als Audioversion festgehalten. Die Darstellungen zeigen weder eine Entwicklung, noch eine Steigerung, nichts desto trotz bringen sie die dadaistischen, humoristischen, obsessiven und schönen Seiten der sich wiederholenden Alltagskommunikation hervor: Die Typografie wird ebenso bedeutsam wie die Ausdruckskraft eines „Mhm“, ohne dass es zu einer Überbewertung kommt. Denn die Alltäglichkeit und Belanglosigkeit des Geschehens macht nahezu unvorstellbar, dass sich im Akt der Wiederholung ‚etwas anderes‘ ereignen könnte“, etwa ein singulärer Moment der Unterbrechung eines einzigartig Authentischen. Horsch poetisiert den Alltag durch die Spannung zwischen dem vermuteten Sinn und dem Konkreten der Situation. Sie verknüpft die Kunstbetrachtung mit der Alltäglichkeit des Wartens und Erwartens. Dies hat die Wirkung sich der Wiederholung hinzugeben, sie geradezu hinauszuzögern, in der Spannung des Wartens zu bleiben, um den Effekt des (Er-)Wartens eines Ereignisses zu wahren.